Die Aufgabe einer Führungskraft wandelt sich im Zeitalter der Digitalisierung. Die bisherigen Strukturen werden hinterfragt und bereiten vielen Führungskräften Sorgen – nicht selten auch um die eigene Position.
Woher kommt das aber? Was sind die Hintergründe? – Eine kleine Analyse:
Fakt ist: Die Realisierung der Systeme ist zu einer interdisziplinären Fragestellung geworden. Technische Systeme waren lange Zeit durch Mechanik geprägt. In den 70er Jahren kam die Mechatronisierung der Systeme auf. Heute sind unsere Systeme autonom, interaktiv, serviceorientiert und vernetzt. Damit steigt der Funktionsumfang dieser Systeme enorm undsomit auch die Komplexität. Die Lösung der Funktionen wird schon lange nicht mehr nur durch Mechanik alleine realisiert. Der Software-Anteil nimmt heute mehr als die Hälfte des Funktionsumfangs ein. Tendenz steigend.Die Lösungen erfordern einen technischen Einklang und das bereits von der Idee beginnend.
Unternehmen aber, die diese Systeme realisieren, haben meist historisch gewachsene Organisationsstrukturen. Bis heute sind sie nach Funktionen wie Vertrieb, Einkauf und Entwicklung unterteilt. In der Entwicklung wiederum finden sich klassische Strukturen entlang der Fachdisziplinen: Mechanik/Konstruktion sowie Elektrotechnik und Softwaretechnik. Die Entwicklungsleitung obliegt häufig der Mechanik. Diese Abteilung ist oder war bislang die führende in der Definition des Systems und damit der Vorgabe der Lösung. Melde- und Entscheidungswege erfolgen innerhalb der Abteilungen und bleiben damit in der Disziplin.
Die so entstandenen Silos arbeiten die Prozesse der Entwicklung ab und werden durch Abteilungsgrenzen in der Zusammenarbeit gehindert. Geistige Mauern werden aufrechtgehalten und durch Abteilungsstrategien und im schlimmsten Fall auch durch die Zuteilung der Budgets in die einzelnen Abteilungen verstärkt. Systemisches Denken und Arbeiten ist fast ausgeschlossen.
„Breaking the Silos “ lautete ein Motto unter dem AUDI seine Systems Engineering Initiative betitelte. Aber auch kleine und mittelständische Unternehmen sehen sich vor den Herausforderungen der modernen Welt, der sogenannten VUCA-Welt.
VUCA steht für
- Volatility‚ Volatilität‘ (Unbeständigkeit)
- Uncertainty ‚Unsicherheit‘
- Complexity ‚Komplexität‘
- Ambiguity ‚Mehrdeutigkeit‘
Und die Führungskräfte? Sehen ihre Position gefährdet!
Ihre Aufgabe und Rolle ist im Wandel. Bereiche sollen aufgebrochen werden, Verantwortung abgegeben und Eigenständigkeit der Mitarbeiter gefördert werden. Themen wie Systems Engineering, Agilität, Design Thinking werden als Lösungen beschworen und bringen viele Fragen mit sich: Was ist das und was davon soll uns wie helfen? Die einfache Antwort darauf gibt es aber nicht und so wächst die Verunsicherung. Erschwerend kommt die Psychologie der Menschen hinzu. Menschen sind Gewohnheitstiere die im ersten Moment fast immer auf Veränderung mit Ablehnung reagieren.
Und die Entwickler*innen? Sie stehen vor einem großen Wald an Veränderungen
Das technische System wird komplexer, es kommen neue Fachdisziplinen hinzu, mit denen vorher keine Berührungspunkte vorhanden waren – Prozesse ändern sich, bewährte Verfahren z.B. zur Absicherung und Qualitätsabsicherung sind nicht mehr ausreichend. Die Kommunikation und Kollaboration haben ihre Tücken und gestaltet sich zunehmend schwieriger. Die Koordination der Entwicklung wird aus der technischen Sicht teilweise vom Projektleiter übernommen. Nicht selten wollen diese die Aufgabe nicht ein zweites Mal übernehmen. Zu groß lastet der Druck Entscheidungen zu treffen, ohne einer fundierten Grundlage.
Und nach der Analyse – die Synthese! Welchen Weg bestreiten?
Den Weg der Weisheit gibt es nicht. Das Unternehmen muss den Wandel der Digitalisierung strategisch gestalten – über alle Bereiche inkl. dem Engineering! Nach einer Standortbestimmung erfolgt die Leitbildentwicklung gefolgt von einem Zielbild. Daraus lässt sich eine Strategie ableiten und in einer Roadmap systematisch und systemisch umgesetzt werden.
Führungskräfte im Engineering können bereits mit kleinen Schritten den Weg ebnen. Dazu lohnt es sich, sich auf die drei Kernaufgaben von Führungskräften zu besinnen. Die Gestaltung der drei Ks –Kollaboration, Kommunikation und Koordination.
1. Kollaboration:
Die Abteilungsgrenzen bilden häufig die Hürden in der interdisziplinären Zusammenarbeit. Sei es durch geistige Mauern oder durch räumliche Trennung. In der Realisierung komplexer technischer Systeme ist die Kollaboration zwischen den Fachdisziplinen von Beginn an wichtig. Nicht nur technisch bedingt, da das Gesamtsystem eine Symbiose aus den Lösungen der Fachdisziplinen ist. Bereits in der Ideenfindung ist es notwendig, die Menschen aus verschiedenen Bereichen zusammen zu bringen. Die Erfahrung lehrt uns: Diversität ist ein Treiber für Innovationen. Für die Führungskraft bedeutet das, die Kooperation so zu gestalten, dass Fachdisziplinen zusammenkommen, wertschätzend zusammenarbeiten und so der Raum und die Aufmerksamkeit für neue Lösungswege offenstehen. Innovative Formate und neue Wege wie es zum Beispiel CLAAS mit dem Greenhouse erreicht hat. Das Greenhouse ist ein Ort der Kollaboration, an dem offene Flächen, beschreibbare Wände, gute technische Ausstattung und natürlich ein Kaffeevollautomat allen Mitarbeitenden zur Verfügung stehen. Umgesetzt in einem alten Autohaus lädt das Greenhouse nicht nur eigene Mitarbeiter ein, sondern auch externe Partner sowie Schulklassen, um interaktiv neue Lösungen kennenzulernen. Diese Orte lassen sich nicht in allen Unternehmen realisieren. Zum Ausprobieren und Erleben sind Kooperationen mit wissenschaftlichen Einrichtungen der sichere Start. Am Fraunhofer IEM entstand dafür 2018 das IdeenTriebwerk , ein Raum für Innovationen.
Tipps und Tricks für die Führungskraft:
- Kollaboration neu denken
- Räume und Zeiten schaffen für die interdisziplinäre Arbeit
- Offen für neue (technische) Lösungen und Methoden sein
- Diversität fördern
2. Kommunikation:
In der Gestaltung der technischen Systeme kommen Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Die Begriffs- und Denkwelt ist geprägt durch die Disziplin, in der Sie ausgebildet wurden. Missverständnisse in der Kommunikation sind damit schon vorprogrammiert. Hinzu kommt der Mangel an Beschreibungsmitteln, die für die Darstellung der eigenen Sichtweise auf das System unterstützt. Das macht sich vor allem in der Dokumentation von Anforderungen oder Ergebnissen aus technischen Diskussionen bemerkbar. Model-Based Systems Engineering liefert hierzu geeignete Mittel. Die Systembeschreibung in Form von Anforderungen, Architektur und Verhalten gibt eine interdisziplinäre abstrakte Sicht auf die komplexen Zusammenhänge im System. Durch die grafischen Darstellungsformen sind diese Modelle schnell zu erfassen sowie Inhalte zu dokumentieren und kommunizieren.
Tipps und Tricks für die Führungskraft:
- Interdisziplinäre Teams in der Kommunikation unterstützen
- Ermutigen, Modelle zu nutzen
- Rahmenbedingungen schaffen damit die Modelle entstehen
- Wachsam für Missverständnisse sein und zwischen den Disziplinen vermitteln
3. Koordination:
Das Entwicklungsgeschehen auf technischer Ebene zu überblicken und damit die eigenen Mitarbeiter*innen zu koordinieren, wird mit steigender Systemkomplexität immer schwieriger. Anforderungen ändern sich über die Zeit und die Auswirkungen sind nicht nachvollziehbar. Experten fordern Entscheidungen zu technischen Lösungswegen oder benötigen Unterstützung im Problemlösungsprozess. Früher diente die technische Zeichnung dazu, das System zu überschauen, den Entwicklungsstand einzuschätzen und die Entscheidungen zu treffen. Bei mechatronischen Produkten reicht der Blick auf die technische Zeichnung nicht aus. Die Zusammenhänge sind interdisziplinär, die Schnittstellen vielfältig und die steigende Varianz verschärft die Situation nur noch. Auch hier stellt das Model-Based Systems Engineering die geeigneten Mittel bereit. Mit den graphischen Modellen entsteht eine Art „mechatronische Zeichnung“ – eine interdisziplinäre holistische Darstellung des Gesamtsystems. Mit der Verknüpfung von Anforderungen mit der Architektur und dem Verhalten können Änderungen nachvollzogen werden. Die abstrakte Sicht auf das Gesamtsystem schafft eine Ebene, in der das Team gemeinsam ein Konsens finden können und dadurch befähigt werden, Entscheidungen zu treffen.
Tipps und Tricks für die Führungskraft:
- Mechatronische Zeichnung einfordern
- Verknüpfungen in den Modellen pflegen
- Abstraktionsebene überwachen
- Konsens schaffen
- Team befähigen, Entscheidungen zu treffen
Fazit:
Die Führungskraft im Engineering hatte lange Zeit auch die Expertenrolle inne. Durch die Interdisziplinarität der Systeme kann der Anspruch nicht erhalten bleiben. Diese Veränderung muss auch die Führungskraft zulassen. Mit dem Fokus auf die drei Ks kann dies gelingen. Dabei spielt Model-Based Systems Engineering (MBSE) eine wichtige Rolle. Aber auch hier muss die Führungskraft nicht der Experte in MBSE werden. Vielmehr geht es darum, die Chance zu erkennen, mit Modellen die drei Ks zu unterstützen. Dazu ist ein Grundverständnis der Ansätze notwendig sowie die Begleitung der Teams bei der Gestaltung und dem Arbeiten mit den Modellen.
Grundsätzlich gilt: Egal auf welcher Ebene wir in der Organisation stehen, wir haben einen „Circle of Influence“ – einen Einflussbereich, den wir durch unsere Handlungen gestalten können. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, wie z.B. die Art und Weise, wie wir über Sachen sprechen. Und manchmal hilft auch einfach: Neue Wege ausprobieren und eigene Erfahrungen sammeln!
Weiterführende Beiträge:
Warum überhaupt Systems Engineering?
Model-Based Systems Engineering