Mit MBSE auf dem Weg zu einer modularen Produktarchitektur für elektrische Fähren

Steuerraum und Fahrgastmodul für das TrAM Projektschiff Medstraum.

Schiffsbau ist heutzutage noch immer ein sehr individualisierter Prozess. Während in vielen anderen Branchen wie z. B. der Automobil- oder Luftfahrtindustrie eine modulare Produktarchitektur schon weit verbreitet ist, werden Schiffe in der Regel noch jedes Mal neu geplant und die benötigten Systeme eines Schiffes speziell für jedes Projekt entwickelt oder angepasst. Dieses Vorgehen ist sehr zeit- und kostenintensiv. Durch die Anpassung der europäischen Klimaziele besteht jetzt allerdings ein hoher Bedarf an schnell herstellbaren, kostengünstigen und klimafreundlichen Passagierschiffen, um die alten Dieselfähren zu ersetzen. Zur Lösung des Konfliktes zwischen der individuellen Anpassbarkeit eines Produktes und gleichzeitiger Serienfertigung hat sich in vielen Branchen das Konzept der Modularisierung etabliert. Durch den Aufbau einer modularen Produktarchitektur sollen so individuelle Produkte durch die Variation einzelner in Serienfertigung hergestellter Module erzeugt werden. Diesen Ansatz haben die Autoren Stefan Pfeifer, Tobias Seidenberg, Christoph Jürgenhake, Harald Anacker und Roman Dumitrescu auf den Schiffsbau übertragen und untersucht, wie sich mit Hilfe des MBSE eine modulare Schiffsarchitektur entwickeln lässt.

Herausforderungen im Schiffbau

Eine große Herausforderung für die Erstellung einer modularen Schiffsarchitektur stellt der hohe Grad an Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Systemelementen dar. Diese Abhängigkeiten sind oft durch physikalische Zusammenhänge bedingt, die dazu führen, dass einzelne Systemelemente eines klassisch integral konstruierten Schiffes nicht ohne Weiteres verändert oder ausgetauscht werden können. Wenn ein Schiff dann zusätzlich noch elektrisch betrieben werden soll, wird diese Problematik weiter verstärkt.

Stand der Technik

Im Bereich der Modularisierung gibt es bereits einige Methoden und Ansätze. Beispielsweise sortiert die Methode nach Stone die Bedürfnisse der Kunden nach Priorität und verwendet sie als Ausgangspunkt des Designprozesses. Produktstrategische Anforderungen werden allerdings vernachlässigt. Eine weitere Herangehensweise ist die Methode nach Göpfert. Im Mittelpunkt steht hier die gemeinsame Entwicklung von Produktarchitektur und Produktentwicklungsorganisation. Hier fehlt jedoch eine genaue Erklärung, wie die Modulerstellung aussehen könnte. Die bestehenden Ansätze reichen also aktuell nicht aus, um mit der hohen Komplexität und den starken Abhängigkeiten im Schiffsbau umgehen zu können.

Derzeit gibt es im Schiffbau daher hauptsächlich zwei Herangehensweisen: Entweder wird das Schiffdesign auf der Basis eines Forschungsprojekts von Grund auf neuerstellt oder ein bestehendes Design nach den Wünschen eines Kunden umgestaltet. Bei letzterer Herangehensweise wird zwar auf bestehenden Schiffdesigns aufgebaut, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Schiffbau ein sehr individualisierter, iterativer und dadurch zeit- und kostenaufwändiger Prozess bleibt.

Ein Baukasten für den Schiffbau? – Der MBSE Ansatz

Da die üblichen Strategien zur Modularisierung eines Prozesses durch den hohen Individualisierungsbedarf im Schiffbau nicht umsetzbar sind, haben Forschende des Fraunhofer IEM einen Prozess entwickelt, der die Modularisierung von Produkten mit hohen internen Abhängigkeiten mithilfe von MBSE ermöglichen soll.

Die vorgeschlagene Methode wird anhand von drei Anwendungsfällen aus dem von der EU finanzierten Projekt TrAM untersucht. Im Rahmen dieses Projekts soll u. a. eine elektrische Passagierfähre als Demonstrator entwickelt werden, die in Stavanger zum Einsatz kommen wird. Zusätzlich soll das Konzept für eine Fähre in London entwickelt werden.

Der Lösungsansatz basiert auf der Idee, die Modulidentifikation durch ein konsistentes, domänenübergreifendes Systemmodell zu unterstützen. Dabei wird die logische Systemarchitektur des Systemmodells verwendet, um Schnittstellen zwischen Elementen zu analysieren und optimale Systemschnittstellen zu bestimmen. Um das zu erreichen, wird eine dreistufige Vorgehensweise vorgeschlagen:

Drei Schritte
  1. Entwicklung einer allgemeinen logischen Schiffsarchitektur für die Passagierfähre
  2. Anpassung der logischen Schiffsarchitektur an konkrete Anwendungsfälle
  3. Analyse der Auswirkungen von Veränderungen (Change impact analysis)

Der Ansatz befindet sich derzeit noch in Bearbeitung. Der erste Schritt konnte bereits erfolgreich abgeschlossen werden, während die Erarbeitung von Schritt zwei und drei derzeit noch aktiv vorangetrieben wird.

Eine allgemein logische Schiffsarchitektur

Die Entwicklung der logischen Schiffsarchitektur umfasste bereits mehrere Arbeitsschritte. Zunächst wurde eine Umfelds- und Anforderungsanalyse der Fähre durchgeführt. Hierfür wurden die beiden Anwendungsbeispiele aus dem TrAM Projekt verwendet. Im nächsten Schritt wurden aus den Ergebnissen der Anforderungsanalyse Funktionen abgeleitet und in eine Funktionshierarchie eingeordnet. Die so erarbeiteten Anforderungen und Funktionen konnten daraufhin mit dem sogenannten SFI Code abgeglichen werden. Dieser stellt einen Quasistandard im Schiffbau dar, der bereits eine sehr ausführliche generische Kategorisierung eines beliebigen Schiffes enthält. Auf diese Weise können die erstellten Systemelemente schnell mit diesem Standard verglichen und, wenn nötig, angepasst werden. Zusätzlich zum SFI Code können auch weitere Ressourcen genutzt werden, um die logische Systemarchitektur zu entwickeln. Das finale Ergebnis wird dann schließlich durch Interviews mit Schiffbauexperten überprüft.

Beispiel eines Systemmodels.
Beispiel London und Stavanger

Die so erarbeitete logische Schiffsarchitektur konnte anschließend als Grundlage für die Planung der beiden Fähren für London und Stavanger genutzt werden. Von ihr ausgehend wurden Anpassungen an die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort vorgenommen. So wurden für die Londoner Fähre zwei Zugangsbrücken für Passagiere an der Seite des Schiffes geplant, während die Passagiere bei der Stavanger Fähre über den Bug einsteigen können. Zusätzlich wurde der Antrieb der Londoner Fähre an die schlammigen Wasserverhältnisse der Themse und den Bedarf einer schnellen Beschleunigung angepasst, während die Stavanger Fähre mit einem dort bevorzugten Propellersystem ausgestattet werden konnte. Die logische Schiffsarchitektur ermöglichte also eine deutliche Zeitersparnis in der Entwicklung der beiden Fähren und erlaubte dennoch individuelle Anpassungen an die jeweiligen Umstände. Ein derartiges Vorgehen könnte in Zukunft einiges an Zeit und Kosten sparen!

Bei weiterem Interesse finden Sie den vollständigen Artikel hier: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2351978920321818

Mehr Informationen zum Projekt TrAM: https://tramproject.eu/

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Autor*in des Beitrags: Fraunhofer IEM
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33102 Paderborn
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